Porträt über Herbert Zangs

Aus: „Herbert Zangs – Retrospektive“, Katalog zur Ausstellung, Galerie-Bagnato, Konstanz 2010.
„Ich hatte einen gewaltigen Motor in mir!“
© Katja Frehland
Herbert Zangs ist gerade neunzehn Jahre alt, als er – so wird erzählt – im Jahr 1943 bei einem Erkundungsauftrag für die deutsche Luftwaffe über Norwegen abstürzt. Man findet ihn nach drei Tagen, eingewickelt in die Seide seines Fallschirmes, im Schnee. Er scheint mehr tot als lebendig. Bei seinem Erwachen im Lazarett schaut er durch das Fenster auf ein Feld. Und wieder sieht er eine weiße Landschaft, bedeckt mit feinstem, dünnen Schnee.(1)  „Das war sagenhaft“, bekannte er später, „das Weiß lag wie Kunst über allem.“(2)
Diese Erfahrung und der Anblick der weißen Landschaften in Norwegen gräbt sich tief in sein Gedächtnis ein und gilt heute – ähnlich wie für seinen Kollegen Joseph Beuys der Absturz in den kalten Steppen der Sowjetunion – als Schlüsselerlebnis für sein Künstlertum: Das traumatische Ringen ums Überleben wird zur „Initialzündung“(3)   für seine Werkphase der Verweißungen, der Reliefbilder, Faltungen und Knüpfungen in den 50er Jahren. Weiß wird Zangs‘ primäre Farbe.

Die Begabung zur Kunst hatte sich bei Herbert Zangs, geboren 1924 in Krefeld, schon früh gezeigt. Trotz seiner Anfälligkeit für Krankheiten war er ein eigenwilliges, sensibles und fantasievolles Kind, das „immer alles mögliche Zeug aufsammelte“.(4)  Als Zangs nun nach seiner Genesung im April 1945 nach Krefeld zurückkehrt, schreibt er sich an der Düsseldorfer Kunstakademie ein. Sein wichtigster Lehrer wird Otto Pankok. Er begegnet Horst Egon Kalinowski, Joseph Beuys und Günther Grass, der ihm in der Person des Malers Herbert Lanke in der Blechtrommel ein Denkmal setzen wird. Zangs ist allerdings unzufrieden mit der Ausbildung an der Akademie. Denn das Lehrerkollegium, das in der Nachkriegszeit „nur dort anzuknüpfen vermochte, wo es 1933 angehalten hatte“(5), vermittelt lediglich eine klassische Ausbildung, die ihm eher lästig ist. Doch Zangs zeigt viel Talent in der gegenständlichen Malerei. Hier erntet er früh Anerkennung und es ist diese Kunst, die für lange Jahre seine einzige Verdienstquelle bleiben wird. Für sein Ölbild Avignon wird er 1951 die Goldmedaille Baron von Stein der Stadt Krefeld erhalten. „Gegenständlich malen“, sagte er, „ich konnte das gut. Aber ich hatte keine Lust mehr.“(6)  Denn Herbert Zangs ist voller Neugier, voller Vitalität, er ist ein „Vulkan“, ständig auf der Suche nach etwas Neuem, wie er später immer wieder über sich aussagte:

Warum sollte ich mich an das Traditionelle dranhängen? Ich wollte etwas Neues schaffen!(7)

Die Situation im Nachkriegs-Deutschland erschwert allerdings die Bedingungen für die jungen Künstler. Die Sammlungen in den Museen sind ausgelagert, es gibt keine Kontakte zur Außenwelt, es fehlt an Material, Werkzeug und Farben und z.B. das Gebäude der Düsseldorfer Akademie ist zerstört: „In diesem riesigen Gebäude gab es dreiundfünfzig oder vierundfünfzig Räume und nur zwei wurden von den Schülern genutzt. Der Rest war bombadiert, es war alles in Trümmern. Einmal haben Beuys und ich in den bombadierten Klassenräumen nach großen Platten gesucht, um darauf zu zeichnen, oder nach Werkzeug, das wir für unsere Arbeit gebrauchen konnten.(8)  In dieser Situation entdeckt Zangs seine schon früh angelegte Leidenschaft für das Sammeln alltäglicher Materialien oder Objekte neu.
Viele seiner Weggefährten, wie z.B. der Architekt Werner Ruhnau erinnern sich daran: „Er sammelte“ Dinge und „Klamotten, die er am Rhein fand, ging mit dem um, was er entdeckte“.(9) Und Joseph Beuys begegnete Zangs öfters, wie er „als begeistertes kreatives Chaos“ herumgeisterte, „immer auf der Suche nach dem Billigsten in Makulatur, Packpapier, Kohle.“ Zangs erhält somit seine Stoffe auch aus Handwerksbetrieben, bei denen er um Farb- und Materialreste oder um ausgediente Gegenstände bittet. „Ihn faszinierten die maschinelle Produktion, die Verwertung riesiger Materialmengen und vor allem die unbrauchbaren Reste, die damit verbunden waren.(10)

Ab 1948 kann Zangs in Düsseldorf auf dem Gelände der Demag Baggerfabrik arbeiten, ab 1952 nutzt er Räumlichkeiten einer Krefelder Ziegelfabrik und zur gleichen Zeit wird ihm im Künstlerhaus in Düsseldorf in der Sittarderstraße ein Atelier zur Verfügung gestellt. Hier beginnt Zangs, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, alltägliche Objekte unterschiedlichster Herkunft zu neuen, expressiven Gebilden zusammenzufügen - und sie mit weißer Farbe zu übermalen. „Abfall, der zu sprechen beginnt“, nannte Zangs eines dieser Materialbilder.(11)

Das Jahr 1953 wird in der Zangs-Literatur allgemein als seine produktivste und kreativste Schaffensperiode bezeichnet und auch er selber sagte rückblickend: „Ich war allein und sehr isoliert und habe das ganze Jahr wie ein Verrückter gearbeitet... ich hatte da einen gewaltigen Motor in mir.“(12)  Er überzieht ungefähr alles, was er findet, mit weißer Farbe. Leinwände, gefaltetes Papier, ein Stück Schwemmholz, Dachziegel, Zangen. „Die Realität“, sagte er einmal „war für mich eine Beleidigung“ – also gestaltet er sie zu Kunst um.(13)  Durch die Verweißung erfahren die Objekte eine Verwandlung, sie verlieren ihre Natur und bewirken doch ein Nachdenken, ein Sich–Erinnern an die Wirklichkeit des früheren Gegenstandes, wie es Sabine Hinrichs anlässlich einer Zangs-Restrospektive 1998 formuliert hat: „Übermalt, der Materialität erledigt und außerhalb der gewohnten Zusammenhänge wird das alltäglich Anwesende sichtbar.(14)

Schon im Jahr 1950 organisiert Paul Wember, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Museums Krefeld, eine erste Einzelausstellung mit gegenständlichen Arbeiten von Herbert Zangs. Es folgen zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Neben den Objektcollagen beschäftigt sich Zangs ab 1952 auch mit abstrakter informeller Malerei.

(1) Hiervon berichtet de Martelaere, E., Herbert Zangs, Cahier d‘Archives, Tome I 1952-1960, Fascicule no 1 1952-1953, S. 117 (Übersetzung: Hass, S.), folgend zit. als: de Martelaere 1. Der Flugzeugabsturz wird in der von Zangs erzählten Version heute teilweise angezweifelt. Als Fakt kann gelten, dass die schneebe-deckten Landschaften auf den verletzten Zangs nachdrücklichen Eindruck gemacht haben.
(2) Zangs im Gespräch mit Art – das kunstmagazin 12 (1996), S. 58-66, folgend zit. als: Art 1996.
(3) Rheinische Post – Krefelder Feuilleton, 23. März 1999.
(4) Herbert Zangs, zit. nach: de Martelaere 1, S. 116 .
(5) Cremer-Bermbach, S., Herbert Zangs. Die fünfzigerJahre, in: Malsch, F. (Hrsg.), Joseph Beuys/Herbert 
Zangs, Ausstellungskatalog: Kunstmuseum Liechtenstein 2007, S. 5, folgend zit. als Cremer-Bermbach.  
(6) Art 1996.
(7) Herbert Zangs, 1987, Zeitungsinterview „Vergiß die Peitsche nicht!“, Südku-rier vom 24. März 1987.
(8) De Martelaere, E., Herbert Zangs, Cahier d‘Archives, Tome I 1952-1960, Fascicule no 2 1953-1954, hier S. 104 
(Übersetzung: Goeller, D.), folgend zit. als: de Martelaere 2.  
(9) Werner Ruhnau in einem Videointerview 2003.
(10) Cremer-Bermbach, S. 6.
(11) Herbert Zangs in einem Zeitungsinterview 1994.
(12) Herbert Zangs, zit. nach de Martelaere 2, S. 104.
Ab 1953 kommen zu seinen Verweißungen unter anderem die großen Themenkreise seiner Plus-Minus-Bilder und ab 1954 die Relief-Bilder: weiße, monochrome Bilder aus Gussmasse, die heiß aus Maschinen kommt und mit Pressluft bearbeitet wird. Ende der 50er Jahre geht Zangs dazu über, weiße Reliefs schwarz zu übermalen; ab 1960 stellt er Reliefs aus schwarzer Farbmasse her: „Es ist das von Adorno beschriebene Schwarz des Verstummens, Verlöschens und Sich-Verschließens“.(15)

Verschiedene Werkphasen folgen: Bekannt sind heute vor allem seine seriellen Reihungen von Scheibenwischerbildern, seine Peitschenbilder, Plakatübermalungen, Computerbilder, Blasen- und Beulenbilder und seine Pinselabwicklungen. Mit seinen Anti-Büchern ist er 1977 auf der documenta 6 zu sehen.

Die Werke von Herbert Zangs, insbesondere seine Arbeiten aus den fünfziger Jahren, werden heute nicht selten in einem Atemzug mit Joseph Beuys, Christo und der Künstlergruppe Zero (zu der er sich nie zugehörig bekannte) genannt. Das Kunstmuseum Liechtenstein widmete im Jahr 2007 Joseph Beuys und Herbert Zangs eine gemeinsame Ausstellung. Peter Brüning nannte Zangs ein „Phänomen“. Die International Herald Tribune charakterisierte Zangs als „Pioneer of the Monochrome“ und das deutsche Kunstmagazin Art zitiert im Jahr 1996 einen Sammler mit den Worten: „Beuys wurde erst später zu dem, was wir heute unter Beuys verstehen (...) Am Anfang war sicherlich Zangs der bedeutendere Künstler“ und fragt: „Sollte die Kunstgeschichtsschreibung da einen Neuerer übersehen haben?“ Fakt ist: Zangs wurde vom Kunstbetrieb nach den internationalen Erfolgen in den 70er Jahren ab ca. 1980 jahrelang fast vergessen und auch heute, nachdem sein Werk in Frankreich und Deutschland wieder mehr und mehr Anerkennung findet, ist dieser Künstler vor allem Kennern ein Begriff. Fakt ist: Seine Verweißungen wären fast auf dem Müll gelandet, hätte der Krefelder Künstler Adolf Luther 1970 diese Werke nicht in einem Keller entdeckt und ihren Stellenwert erkannt. Und als sich Zangs in diesem Zusammenhang mit seinem weißen Werk neu auseinandersetzt, es weiterführt und vollendet und dabei einige seiner neuen Verweißungen zurückdatiert, wird ihm das übel genommen, der Vorwurf des Plagiats wird laut: „Dass solche Werke früher entstanden sein sollten als die Arbeiten von Manzoni und der Gruppe Zero, stieß auf ungläubiges Staunen.“ Und eine Krefelder Zeitung ätzte im Jahr 1994: „Dieses Talent schaffte es ohne Mühen, aber auch jeden vor den Kopf zu stoßen.“ Die Bonner Kunsthistorikerin Susannah Cremer-Bermbach, die Zangs Werk gesichtet hat, kam allerdings zu dem Schluss, dass „nur zwei Werke“ falsch datiert waren. „Der Fall wurde sehr aufgebauscht.“(16)

Sicher ist: Zangs hat sich selber nie sonderlich um eine steile Karriere im Kunstbetrieb bemüht. Als Werner Ruhnau im Jahr 1957 Herbert Zangs gemeinsam mit Yves Klein für die Gestaltung des Theaters in Gelsenkirchen engagieren will, ist Zangs unauffindbar. Und während Beuys nach der gemeinsamen Teilnahme an der documenta 6 bis zum Jahr 1982 immer wieder nach Kassel reist, hat Zangs besseres zu tun: Er ist auf Reisen. Er führt das Leben eines Wanderers, eines ruhelosen Vagabunden. Denn Herbert Zangs sammelt nicht nur Gegenstände, er sammelt auch Eindrücke, er will leben. Immer wieder beschreiben Wegbegleiter und Freunde diese Zeichen seiner mitreißenden „grossen Neugier“ und seiner „ungestümen Begeisterung für das Leben“.(17)

Deshalb drängt es ihn mit unstillbarem Drang hinaus, hinaus in die weite Welt. Schon 1946, im Alter von 22 Jahren, macht er sich auf, per Anhalter und mit fast leeren Taschen quer durch Deutschland. Es folgen Reisen in die Schweiz, nach Italien, wo er Erich Maria Remarque kennenlernt. Auf seiner ersten Reise nach Frankreich und Paris im Jahr 1951 schlägt er sein Lager unter den Seine-Brücken auf und lernt den deutschen Künstler Wols kennen. Bald darauf freundet er sich mit Albert Camus an und besucht ihn in seinem Haus in Südfrankreich. Es folgen Reisen nach England, Jugoslawien, Griechenland, Tunesien, Algerien, New York, Toronto und viele mehr. Bevorzugtes Reiseziel bleibt Paris, hier lässt er sich nieder und mietet ab 1955 ein Atelier an der Place Denfert-Rochereau, bis zu seiner Ausweisung aus Frankreich 1973 wegen einer Prügelei mit zwei Polizisten.

Warum ist Zangs so rastlos, warum das ewige Reisen?“, fragt seine Bio-grafin, Emmy de Martelaere, die Zangs im Jahr 1974 in Paris kennenlernt. Ihre Antwort: „Nichts hat ihn zurückhalten können, weder Frauen noch Freunde, ja noch nicht einmal die Verpflichtungen, die Künstler haben, wenn sie am Kunstgeschehen teilnehmen und für ihr Werk eintreten wollen.“ Denn „Herbert Zangs‘ Energie ist tatsächlich untrennbar von der Vorstellung des Reisens“. Gegenüber der Frage eines Journalisten, was seine Prioritäten seien, formuliert Herbert Zangs ganz klar: „Das Wichtigste für mich?  – Leben, denn Leben ist Bewegung und alles andere ...“.(18)

Im Jahr 1991 verliert Zangs nach einer schlecht behandelten Diabetes-Erkrankung nacheinander beide Beine. Mit dem Reisen ist es nun vorbei. Er kehrt nach Krefeld zurück, wo er mit seiner Lebensgefährtin in einem Hotel wohnt. Seinem Willen, Kunst zu machen und zu leben, tut das keinen Abbruch, wie er in einem Interview gegenüber ARTE antwortet: „Ich bin reicher geworden. Wenn ich nachts träume, laufe ich noch mehr, ich laufe im Traum, ich bin der größte Läufer dieser Erde.(19)  Und 1996 erzählt er gut gelaunt: „Ich habe mich aus dem Rollstuhl kippen lassen. Und dann bin ich auf dem Papierboden herumgekrochen wie ein Tier. Die tollsten Bilder meines Lebens!“(20)
Herbert Zangs stirbt 2003 in einem Pflegeheim seiner Heimatstadt Krefeld.



(Katja Frehland, 2010)
(13) Art 1996.
(14) Hinrichs, S., „Herbert Zangs – Retrospektive. 14. März – 29. März 1998, Mu-seum für Neue Kunst Freiburg 
(Informationsblatt zur Ausstellung).
(15) Cremer-Bermbach, S. 9.  
(16) Alle Zitate bei: Art 1996.
(17) Cremer-Bermbach, S. 5.
(18) De Martelaere 2, S. 39.  
(19) De Martelaere 2, S. 40.  
(20) Art 1996.

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